Barrierefreiplan Natur - Behinderte Gäste, eine „vergessene Zielgruppe“

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Behinderte Gäste, eine „vergessene Zielgruppe“

Eine Gruppe Menschen, zum Teil mit Rollstuhl, auf einem Aussichtspunkt
Blick vom Untersberg - Fernsicht ohne Barrieren

Wenn es also gilt, die volle Teilhabe behinderter Frauen und Männer zu sichern und umfassende Barrierefreiheit zu erreichen, dann stellt sich natürlich die Frage, wie groß diese „Zielgruppe“ denn eigentlich ist und wie sie sich zusammensetzt.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen geht man als Faustregel davon aus, dass im Schnitt etwa jede/r zehnte BürgerIn eines Staates in irgendeiner Form behindert ist. Die exakte Zahl ist in vielen Staaten nicht bekannt, da die Definitionen dessen, was man unter „behindert“ zu verstehen hat, sehr unterschiedlich sind. Hier einige Zahlen für Deutschland:

  • Rund acht Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung besitzen einen Schwerbehindertenausweis und werden in der Schwerbehindertenstatistik erfasst. Das sind 6,7 Millionen Menschen. Da nicht alle Menschen mit Behinderung einen Ausweis beantragen, ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt.
  • Nur bei knapp fünf Prozent davon ist die Behinderung angeboren, bei 85 Prozent ist sie durch eine spätere Krankheit bedingt.
  • Je etwa 500.000 Menschen
    • sind zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen,
    • werden geistig behindert genannt,
    • sind sehbehindert.
  • Weitere 155.000 Menschen sind blind. Jährlich erblinden etwa 20.000 Bundesbürgerinnen und –bürger.
  • Es gibt in Deutschland etwa 80.000 gehörlose Frauen und Männer.
  • Fünf Millionen Menschen in der Bundesrepublik gelten als schwerhörig, das Grüne Kreuz geht sogar von 14 Millionen hörgeschädigten Menschen aus. Die Zahl der HörgerätenutzerInnen wird auf 2,5 Millionen geschätzt.
  • Vier Millionen Menschen in Deutschland gelten als Analphabeten, sie können kaum lesen oder schreiben.
  • Rechnet man zu den behinderten Menschen alle Bürgerinnen und Bürger mit Mobilitätseinschränkungen hinzu - das sind alte Leute, Kleinkinder, Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit vorübergehenden Verletzungen wie einem Gipsbein etc., so kommt man auf einen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent.
  • Mit Angehörigen und FreundInnen rechnet man mit 30-35 Prozent der Bevölkerung, die von barrierefreien Angeboten profitieren, Tendenz nicht zuletzt aufgrund des demographischen Wandels steigend.

Wir haben es also mit einer sehr heterogenen und stetig wachsenden Zielgruppe zu tun, die bei der Gestaltung eines barrierefreien Naturerlebens häufig „vergessen“ wird und die sich folgenden Problemstellungen gegenübersieht:

Wer etwa zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen ist, scheitert an Stufen, Treppen, zu steilen Steigungen, unebenem Untergrund und häufig nicht benutzbaren Toiletten. Blinde Menschen scheitern an nur visuell ausgerichteten Informationen. Sehbehinderte Personen scheitern an fehlenden kontrastreichen Markierungen. Schwerhörige Bürgerinnen und Bürger scheitern an fehlender technischer Hörverstärkung oder am nicht vorhandenen Hörersatz. Wer gehörlos ist, scheitert an nicht vorhandener Gebärdensprachdolmetschung in der Umweltbildung, bei Filmen oder Führungen. Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung / Lernschwierigkeiten scheitern an unverständlicher Sprache und Fremdworten in der Kommunikation und sind vielfach als Gäste nicht willkommen.

Diese Probleme und die oben genannten Zahlen machen deutlich, dass an einer umfassenden barrierefreien Gestaltung kein Weg mehr vorbeiführt. Wenn man sich zudem vor Augen führt, dass konsequent barrierefrei geplante Dienstleistungen und Konsumgüter auch immer Vorteile für alle NutzerInnen haben, dann ist dies Erfordernis noch zwingender: Wenn es Rampen, Aufzüge und gut erreichbare Bedienelemente gibt, hilft dies Eltern mit Kinderwagen, dicken Menschen, Kindern und klein gewachsenen Menschen sowie Menschen mit vorübergehend eingeschränkter Beweglichkeit, aber auch Menschen im Rollstuhl.

Wenn es tastbare Materialien, Großschrift und akustische Zusatzinformationen wie etwa Hörkassetten oder Audiodeskription gibt, hilft dies älteren Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, aber auch blinden und sehbehinderten Menschen. Wenn es Gebärdensprache, Untertitelung, Funk-Übertragungsanlagen und Lichtschreiber gibt, hilft das Millionen Menschen mit Hörproblemen, aber auch schwerhörigen und gehörlosen Menschen. Wenn es einfache Sprache und Piktogramme gibt, dann hilft das Menschen, die nicht lesen und schreiben können oder die deutsche Sprache nicht oder noch nicht beherrschen, aber auch sogenannten geistig behinderten Menschen. Barrierefreiheit kann eine umfassende Neugestaltung unserer Lebensbereiche leisten.

In der Studie „Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für alle“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) von 2003 wurde dieser Zusammenhang sehr treffend beschrieben: Eine barrierefrei zugängliche Umwelt ist „für zehn Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel“.

In der gleichen Studie wurde übrigens festgestellt, dass das Naturerleben für behinderte Menschen ein noch wichtigeres Urlaubsmotiv ist als für die deutsche Durchschnittsbevölkerung und dass die bevorzugten Urlaubsgebiete behinderter Gäste eher in Deutschland als im Ausland liegen. Noch zwei Gründe mehr, diese Zielgruppe und ihre Bedarfe in Großschutzgebieten umfänglich zu berücksichtigen.